Alexander Salomon, Vorsitzender des Arbeitskreises für Wissenschaft, Forschung und Kunst der Grünen Landtagsfraktion, will die Akten aus den NSU-Untersuchungsausschüssen an das Generallandesarchiv Karlsruhe überführen.
Die dort eingerichtete Dokumentationsstelle Rechtsextremismus sowie die geplante Forschungsstelle Rechtsextremismus seien ideale Orte, um für die gefährdeten Dokumente einen Zugang durch Öffentlichkeit und Forschung zu gewährleisten.
Um welche Unterlagen geht es?
Aus den beiden NSU-Untersuchungsausschüssen in Baden-Württemberg (15. Und 16. Wahlperiode) und der vorausgegangenen Enquetekommission „Konsequenzen aus der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes“ gibt es Unterlagen im Umfang von mehreren hundert Aktenordnern. Dabei handelt es sich um Kopien der Unterlagen verschiedener Behörden aus den Organisationsbereichen von Innenministerium und Justizministerium (u.a. Polizei, Verfassungsschutz, Justiz).
Alexander Salomon weist darauf hin, dass diese womöglich bald zurückgegeben werden müssen. Er schlägt vor, die Unterlagen im Generallandesarchiv Karlsruhe zusammen zu führen. „Die neue Dokumentationsstelle Rechtsextremismus und auch die geplante universitäre Forschungsstelle bilden den idealen Rahmen, die Unterlagen auszuwerten und für Forscherinnen und Forscher zugänglich zu machen.“
Wo sind die Unterlagen jetzt?
Die Unterlagen werden derzeit an einem geheimen Ort unter Verschluss gelagert. Dort verbleiben sie so lange, bis bundesweit die Aufarbeitung rund um den NSU abgeschlossen ist (parlamentarische Untersuchungsausschüsse, Gerichtsverfahren). Danach erhalten die Behörden die Kopien ihrer Unterlagen zurück. Festgehalten ist dies für Baden-Württemberg insbesondere als sog. „Aktenvernichtungsmoratorium“ im Abschlussbericht des zweiten NSU Untersuchungsausschusses. Laut Moratorium möge die Landesregierung sicherstellen, dass alle Akten erhalten bleiben, die den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen NSU vorgelegt wurden.
Wie zeitkritisch ist das Vorhaben?
Die Aufarbeitung der NSU-Morde ist auf der Zielgeraden. Nach dem Urteil im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München prüft derzeit der Bundesgerichtshof in Karlsruhe die eingelegten Revisionen. Mit einer Entscheidung wird gegen Ende dieses Jahres gerechnet.
Der letzte NSU-Untersuchungsausschuss in den Parlamenten ging im Juni in Mecklenburg-Vorpommern zu Ende. Wegen noch offener Fragen legte der dortige Untersuchungsausschuss nur einen Zwischenbericht vor. Der Schweriner Landtag empfahl, in der neuen Legislatur über einen weiteren UA zu beraten – ob es dazu kommen wird, ist freilich noch offen.
Warum sind die Unterlagen gefährdet?
Die Behörden sind verpflichtet, regelmäßig Unterlagen zu vernichten. Das könnte auch die Unterlagen aus den NSU-Untersuchungsausschüssen betreffen, sofern sie zurückgegeben werden müssen.
Alexander Salomon sieht die Landesregierung, insbesondere Innenministerium und Justizministerium, gefordert, die Unterlagen aus den NSU-Untersuchungsausschüssen sowie der Enquetekommission in die Dokumentationsstelle zu überführen: „Die Zeit drängt: Wenn wir nicht bald eine Archivierung der Unterlagen aus den NSU-Ausschüssen auf den Weg bringen, droht ihnen die Vernichtung. Damit wären viele wertvolle Informationen aus vier Jahren Aufklärungsarbeit des Landtags unwiderruflich verloren.“
Warum sind die Dokumente weiterhin wichtig?
Die Unterlagen umfassen unter anderem Dokumente zu den Besuchen des NSU-Trios in Ludwigsburg, ihren Kontaktpersonen in Baden-Württemberg und deren Umfeld, der damaligen Szene-Infrastruktur und ihrer Musik mit prominenten Rechtsrock-Bands aus Baden-Württemberg. Zwei Lieder der Musikgruppe „Noie Werte“ dienten der musikalischen Untermalung einer frühen Version des NSU-Bekennervideos.
Diese Informationen können auch nach vielen Jahren noch wertvoll sein – zum Beispiel, wenn neue Erkenntnisse oder Hinweise rund um den NSU-Terror auftauchen. Die Dokumente aus den Untersuchungsausschüssen könnten helfen, neue Rückschlüsse zu den Ereignissen zu ziehen. Die Unterlagen könnten auch Querverbindungen zwischen rechtsextremistischen Phänomenen ermöglichen, die über den NSU-Komplex oder über einzelne Bundesländer hinaus gehen.
Außerdem könnte die Dokumentationsstelle für ihre Themendossiers und Publikationen auf einen breiteren Materialfundus zurückgreifen.
Alexander Salomon: „Zum NSU und seinem Umfeld haben wir zwar viele Erkenntnisse gewonnen. Es sind aber noch immer Fragen offen. Den Großteil des Puzzles haben wir zusammengetragen – einige Teile fehlen noch. Für den Fall, dass diese eines Tages auftauchen, sind wir auf die bisherigen Erkenntnisse angewiesen. Nur so entsteht aus dem Puzzle ein schlüssiges Gesamtbild.“
Wo und wie könnten die Dokumente sinnvoll archiviert und genutzt werden?
Alexander Salomon schlägt vor, die Dokumente aus den NSU-Ausschüssen in der Dokumentationsstelle Rechtsextremismus des Generallandesarchivs in Karlsruhe zusammenzuführen.
In den Planungen für den baden-württembergischen Landeshaushalt 2022 ist vorgesehen, ergänzend zur Dokumentationsstelle auch eine Forschungsstelle Rechtsextremismus einzurichten. Diese soll an einer Universität angebunden werden und mit der Dokumentationsstelle zusammenarbeiten. In diesem Zusammenhang könnten auch die Unterlagen aus den NSU-Ausschüssen wissenschaftlich aufbereitet und für Forscherinnen und Forscher zugänglich gemacht werden.
Was befindet sich sonst noch in der Dokumentationsstelle Rechtsextremismus?
Den Kern bildet die Sammlung des Journalisten und Publizisten Anton Maegerle, der sein Privatarchiv der Dokumentationsstelle Rechtsextremismus gespendet hat. Mit rund 2.500 Aktenordnern sowie zahlreichen Büchern und Zeitschriften gehört sie zu den größten Fachsammlungen in Deutschland zum Rechtsextremismus. (siehe Pressemeldung MWK vom 25. Juni 2021)
Alexander Salomon: „Mit der Dokumentationsstelle Rechtsextremismus und einer neuen universitären Forschungsstelle Rechtsextremismus schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Dokumente zum NSU werden nicht nur vor der Vernichtung gerettet – sie stehen dann auch der Wissenschaft zur Verfügung. Zusammen mit dem bereits vorhandenen Material aus der Sammlung Maegerle entsteht in der Dokumentationsstelle eine umfangreiche Grundlage für Publikationen und Studien, die uns in der Prävention und im Kampf gegen Rechtsextremismus weiterbringen. Denkbar wären etwa Untersuchungen über rechtsextremistische Strukturen oder darüber, wie Menschen sich radikalisieren.“
Wie ist die Situation in anderen Bundesländern?
Auch in anderen Länderparlamenten besteht der Wunsch, die Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse langfristig zu sichern.
Alexander Salomon könnte sich gut vorstellen, beim Karlsruher Landesarchiv auch Unterlagen anderen Bundesländern zu bündeln. Insgesamt gab es 13 parlamentarische Untersuchungsausschüsse zum NSU. „Sowohl die Dokumentations- wie auch die Forschungsstelle würden von den zusätzlichen Unterlagen deutlich profitieren. Für Forschende wäre es dann einfacher, länderübergreifende Querverbindungen zu ziehen“.
In ihrem Bundestagswahlprogramm schlagen die Grünen nach dem Vorbild der Stasi-Unterlagen-Behörde ein Archiv über rechten Terror vor, das die Dokumente der Untersuchungsausschüsse aufarbeitet.
Alexander Salomon: „Die Bündelung der baden-württembergischen Unterlagen in Karlsruhe wäre ein erster Schritt in diese Richtung. Wenn unser Vorhaben gelingt, haben wir für ein solches Archiv schon wertvolle Vorarbeit geleistet.“